Roruschka und Wolf

Die Männer sind aufs Feld gezogen. Mit den Gewehren, geschultert oder in den Händen. Die Felder sind weiß. Die Wege sind weiß und voller tückischer Löcher, in einem hat Pepe vorige Woche seinen Volvo versenkt, der steht noch immer da draußen, im eisigen Wind, in einer Wasserpfütze mit Eis drauf, das nun gebrochen ist, weil Pepe den Wagen mitten hineingelenkt hat.

„Der war im Suff“, sagen die Leute unten im Dorf. Denn dass Pepe den Wagen versenkt hat, ist ein Ereignis. Eines, über dass es sich zu sprechen lohnt. Sonst lohnt es sich nicht immer zu sprechen und wenn die Hunde bellen, an ihren Leinen zerren und der Wind laut heult und die Kälte in die Häuser kriecht, verstummen die Gespräche, dann wird einer wie der andere schweigsam wie Slavo, der, stiernackig, stirngerunzelt, in seinen Bart schweigt, wenn die anderen wild durcheinanderreden, wenn draußen die Blumen Blüten tragen, in den Wiesen, und die Mädchen schwingende Röcke.

Jetzt ist Winter und die alte Raja knüpft das Kopftuch unter dem Kinn und die Hunde verkriechen sich winselnd unter den Treppen, wo die Menschen sie wegjagen, wie sie immer weggejagt werden.

Auf der Straße in die Felder, die keine ist, nur ein Stück länglicher Sand, gefährlich wie eine Klippenwand, das weiß Pepe jetzt und alle wissen es, stehen die Männer, gelehnt an die Autos, die Kragen der Mäntel hochgeschlagen, die Mützen tief, die Gewehre in der Hand. Im Dorf liegt ein Schaf, gerissen, auf dem Weg, die Rippenbögen kahl, aber genug Fleisch noch dran. „Das war ein Einzelner“, sagt Dabu und zieht an seiner Pfeife, die, krumm, in seinem Mundwinkel hängt. „Ein Grauer.“ Und die Hunde freuen sich, wetzen ihre Zähne in das blutige Fleisch, reißen Stücke von Wolle und Sehnen und Fett heraus, das ist gut, das bringt über den Winter. Die Männer aber, draußen, in den Feldern, betrachten sorgenvoll den Horizont, als könnte sich von dort eine Antwort abzeichnen, auf die schwierigen Fragen des Lebens.

Don Camillo hat seine Soldatenuniform angezogen, wegen des Gefühls, die Mädchen haben ihm nachgeschaut und hinter den vorgehaltenen Händen gekichert und Don Camillo hat die Schultern gestrafft, die breiten und ist weit ausgeschritten.

„Vielleicht war es Frege Altmann“, haben die Leute gesagt, der mit seinem Pferdewagen, das hölzerne Gefurt hinten dran, um die Ecken fegt und schon so manchen Katze in den Himmel geschickt hat, das muss Frege gewesen sein. Aber was wissen die schon, hat Duba gesagt, als er sich über den warmen Körper beugte, der ein Kadaver war nurmehr und die Frauen haben das Heulen des Wolfes gehört, in der Nacht, erst gestern noch. Er muss noch da draußen sein, haben sie gesagt, da draußen in den Feldern.

Die Männer jagen ihn, die Stiefel schwer, die Gewehre bereit, ihre Stimmen verhallen in der Schneewüste, immer zwei und drei, zwei und drei. Auf einem Zaun eine Krähe und wo warst du, Roruschka, als der Sommer noch mild und die Lüfte noch fruchtig waren, angefüllt von Versprechen und Sehnsüchten, wo warst du, als die Blätter fielen, als Wind sich breit machte, entschlossen und mächtig, die Gemüter zu kühlen, wo warst du?

Die Männer haben Spuren gefunden im Schnee, große Pfotenabdrücke, das ist kein Hund, mit diesen Krallen und Duba hat ihn ausgemessen und schweigend mit dem Kopf genickt, da haben alle Bescheid gewusst, was Duba sagt, das hat Gewicht.

Wo warst du, Roruschka, als der eisige Nordwind in unsere Herzen zog und wir, waidwund wie die Tiere, im Heu lagen, die letzten müden Strahlen des vergangenen Sommers in uns aufsaugend wie Verhungernde, wissend dass es lange, so lange dauern würde, bis wir sie wiedersehen.

Du hast uns auf die Stirn geküsst, zum Abschied, und gewunken, mit deinen zarten Händen, du kämst bald wieder, ein Versprechen, aber du bist nicht gekommen und ich wartete auf dich, dein liebliches Lachen, deine offenen Augen, dein flachsweiches Haar, wie du mir über die Schläfe streichst. Nun ist es kalt, draußen, drinnen, der Ofen raucht und wärmt nicht mehr, wir sitzen in den windschiefen Hütten und reiben uns bibbernd vor Kälte aneinander, während vor dem Haus der Birnbaum ächzt im Sturm, der an den Zäunen reißt, winselnd und jaulend, ein Vorwurf in die Welt, die so kalt daliegt und kein Sonnenstrahl in unseren Herzen.

Wo warst du Roruschka, als wir das Brot buken, als wir Verzweiflung darben, weil die Kuh gestorben war, die Mule, die Gute, die Einzige, und nun keine Milch mehr, keinen Käse, keine Butter.

Die Spuren im Schnee führen hinauf in den Wald. Die Männer steigen schweigend, kein Wort gesprochen, das nicht schon gesprochen ist, kein Gedanke geträumt, kein Lied gesungen, das, von fernen Landen erzählt, wie du sangst, von den Kränzen im Haar, von Violetta, der Schönen, die einen Jüngling küsst und nimmer vergisst.

Wir sind eingeschneit. Die Welt ist hinter dem Horizont zu Ende, da, wo Himmel und Erde sich umarmen und die Hirsche in den Wäldern ihr einsames Klagen anstimmen. Gedämpft sind die Schritte, harschend und krachend der Schnee unter den Stiefeln. Deine Füße, wie hölzern, so mager, in deinen schweren Kloben, die Strümpfe zerrissen. Dein Klagen, das gebrochene Herz in dir tragend. Und im Radio eine Melodie, eine leise. Wenn die Männer heimkehren, die Gewehre noch geladen und kein Schuss hallt in der Nacht, dann wird der Wolf leben, gerannt ist er, den Schweif aufgestellt, die Nase witternd in die Luft. Hörst du es nicht? Hörst du sein Heulen in der Nacht?

Ich umarme und küsse dich. Nie wollen wir einander vergessen, sagen deine Augen, die weich sind und warm.

Was wünschst du dir?, fragst du.

Ich wünsche mir, dass du glücklich bist.

Ich bin glücklich.

Und was ist Glück?

Das Glück ist ein Vogel, der dich davon trägt, hinaus über die Felder, über den See und hinweg.

Ich träume von dir. Von deiner Sanftmut. Deiner Warmherzigkeit. Wo bist du hingegangen Roruschka? Gibt es einen Himmel, da, wo du bist? Gibt es die Sterne, oben am Firmament? Einen Gott, der dich schützt? Eine Mutter, die dich wärmt?

Drei Tage sind sie hinausgegangen. Aber den Wolf haben sie nicht gefangen. Kein Schuss. Kein Schrot. Kein Tod. Vielleicht ist er zurückgekehrt, zu den Kameraden, im Norden, den Elchen und eisigen Ebenen. Einer Fährte folgend, einsam und nicht allein. Allein ist nur der Fremde, der, kein Lachen im Herzen, des Weges zieht.

Kalt ist es, kalt, dein Gesicht, deine Hände. Kalt die Wangen, die Stirn. Die Herzen zu groß und die Taschen zu leer. Zu leer, um die Hände darin zu wärmen. Vergibst du denen, die dir nicht vergeben, weil es nichts zu vergeben gibt? Vergibst du Gott? Seinen Engelscharen? Wenn sie fortgehen, dahin, wo es warm ist. Wo Schritte hallen in der Nacht? Hörst du sie singen? Von vergangenem Leid, das gegenwärtiges nicht aufwiegen kann? Und wo warst du Roruschka, als wir hinauszogen, in die Wälder, die trostlosen, der Wind uns das Haar zerwob, das Lachen erstarb und verstummte. Wo warst du?

Ich heile deinen Schmerz. Deine Angst nehme ich mit mir, hinaus in die Eiswelt. Ich sehne mich nach dem Frühling, wenn schmal und zart die Krokusse blühen und die Weiden ihre Knospen ausstrecken. Ich sehne mich nach Freude und Friede, nach Wärme und Lachen. Geh nicht. Bleib hier und wärme mich in deinem Arm, halte mich, bis das Blühen wieder kommt, der Schmerz vergeht, den die Kälte in uns pflanzt.

Wir vergeben unseren Sündigern. Wir vergeben aller Welt, dass sie da ist und trotzt dem Vergehen, dem ewigen, dem niemals endenden Wiedererstehen. Was verstehst du vom Leben? Was verstehst du von Schmerz? In dir ist nur Wachsein und die Hoffnung, dass es ein Anderes gibt, etwas, von dem du nichts ahnst in deinem selbstherrlichen Dasein. Wie wir trutzen. Wie wir hinabsteigen in das Tal, das daliegt, zerflossen im Eis, das ewig zu währen scheint und doch nur ein Sekundenhauch ist, eine Atemzug im großen Klang des Abends und Morgen und noch ein Morgen und was kommt und geht. Die Haare in der Stirn, den Blick entschlossen. Wir finden ihn, wir finden ihn wohl. Das Heulen in der Nacht hält uns wach, draußen wo die Hirten ziehen, ihre Schafe treiben, hinab, hinab, in die Ebenen, die jetzt verschneit daliegen, das letzte magere gelb abzupfen, die kläglichen Halme und nichts ist mehr wie es war, ein Weg dem anderen gleicht, alles eins ist und nichts.

Nimm meine Hand, du ziehst sie hinter dir her und ich folge dir, hinaus, in das baldende Dunkel, über dem sich die Wolken zusammenziehen, argwöhnisch hinaufschauend, ahnend, was da kommen mag und was nicht. Gottergeben. Nichtssagend. Finsternis im Gebälk, dem knackenden, verheiz ein Tischbein und dann noch eins. Wenn der Frühling kommt, und die Flüsse tauen, wird er einen neuen zimmern, was brauche ich einen Tisch, wenn ich es warm haben kann.

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Anmerkung: Dieser Text entstand im vergangenen Dezember, als ich in Rumänien zu Feldarbeiten war. Gleich am ersten Tag sah ich ein gerissenes Schaf auf einem Weg liegen, dessen Kadaver von Straßenhunden zerfetzt wurde und ein wenig weiter liefen Männer mit Gewehren durch die verschneiten Felder. Ich habe den Text absichtlich nicht weiter bearbeitet – nur ein paar Rechtschreibfehler korrigiert – und in der Rohfassung belassen, weil ich das Intuitive daran ganz spannend finde, auch wenn er natürlich nicht sehr gut ist und ausbaufähig. Ich mag das Melancholische, eine Stimmung, die mich dort unten erfasst hat, als ich von heute auf morgen aus dem herbstlichen Berlin in die verschneite und noch sehr ursprüngliche Walachei kam, das war sehr inspirierend.

Fotos zum Text und weitere gibt es auf meinem Instagram-Account.

 

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